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Szenario Gesundheitssystem 2030

Prof. Dr. Heinrich Fendt, 2009

Flensburg University of Applied Sciences


In gekürzter Fassung veröffentlicht in: Fendt, H., Szenario Gesundheitssystem 2025, in: Trill, R. (Hrsg.), Praxishandbuch eHealth, 2009, S. 13-22; Fendt, H., Eine denkbare Zukunft des deutschen Gesundheitssystems im Jahr 2025, F&W 3/2010, S. 284-289.

Nach Kahn und Wiener, den Erfindern der Szenariotechnik, sollen Szenarien überraschungsfreie Umwelten skizzieren und damit Entscheidungsträgern helfen, Veränderungen in ihrem Umfeld zu antizipieren und sich frühzeitig darauf einzustellen. "Schüsse aus der Hüfte", also hastige Ad-hoc-Reaktionen auf Veränderungen, können damit zu Gunsten eines geplanten Anpassungsprozesses weitgehend vermieden werden. Im Folgenden ist eine denkbare Zukunft des deutschen Gesundheitswesens beschrieben, die so bestimmt nicht eintreten wird, aber vielleicht ja in ähnlicher Form. Wären die in der Branche tätigen Entscheider und Organisationen dann darauf vorbereitet? Dieses Szenario steht neben vielen anderen hier nicht näher beleuchteten Diskurswelten, die alle zusammen einen Entwicklungstrichter beschreiben, durch den wir einen Weg in die Zukunft finden werden.

Das Gesundheitssystem der BRD hat im Jahr 2030 eine liberale, auf die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger ausgelegte Prägung. Nach Jahren der Bevormundung und staatlicher Regulierungen empfindet die Bevölkerung dies als befreiend. Ihre geistige Haltung wandelte sich von einer latenten Nähe zum Hypochonder hin zu einem gesunden und vitalen Lebensstil. Der neue Geist äußert sich nicht zuletzt auch darin, dass negativ besetzte Begriffe, wie Krankenhaus, Patient oder Krankenkassen aus dem Sprachgebrauch weitgehend verschwunden sind.

Das erklärte Ziel des reformierten Gesundheitswesens ist der Erhalt der körperlichen und geistigen Vitalität und Fitness der Bürger. Prävention steht vor Kuration, Rehabilitation und Palliativbehandlung. An diesem Ziel ist das gesamte Gesundheitssystem ausgerichtet, dessen Konstruktion dem nachfolgend skizzierten "Zwiebelmodell" folgt. Es besteht aus vier Schichten oder besser Abwehrschilden zum Erhalt der persönlichen Gesundheit.

Die vier Schilde Innerer Schild, Äußerer Schild und Außen-Schild entfalten ihre schützende Wirkung abgestuft von innen nach außen sowie insbesondere im Einklang miteinander.



Zwiebelmodell


Zwiebelmodell Gesundheitssystem 2030

Überrascht, wie das Gesundheitssystem im Jahr 2030 aussieht?
Keineswegs, denn dieser Weg zeichnete sich bereits zur Jahrhundertwende ab. Den Erneuerern kam damals die zunehmende Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft entgegen, denn Althergebrachtes wurde durch völlig neue Techniken und Verfahren in vielen Bereichen und Branchen ohnehin zunehmend in Frage gestellt. Die Zeichen der digitalen Zeit standen auf Paradigmenwechsel, warum dann nicht auch und gerade im Gesundheitswesen. Dennoch kam vieles anders als damals gedacht. Nun aber erst mal der Reihe nach.

Schauplatz - Persönlicher VitalChecker:

Als Jan sich an den Frühstückstisch setzt, kann seine Frau schon sehen, dass ihn etwas bedrückt. "Na, mein Schatz, welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?" "Wie recht sie schon wieder hat" denkt Jan, ohne auf die Frage weiter einzugehen. "Komm, lass uns in aller Ruhe frühstücken und dann erzählst du mir was los ist". Die beiden genießen die Frühsommersonne und plaudern über verschiedene Belanglosigkeiten. "Möchtest Du noch etwas vom Camembert", fragt Marie und reicht ihrem Mann die Käseplatte. "Nein, vielen Dank, das gerade nicht, .. mein Cholesterin ist schon wieder ganz gelb". "Ach, DAS macht dir zu schaffen. Aber deine Werte waren in der letzten Zeit doch ganz gut". "Ja schon, doch heute Morgen zeigte mein PVC (Persönlicher VitalChecker) einen stabilen Abwärtstrend und zudem habe ich seit Tagen Schmerzen im Unterleib. Bei Fetten muss ich mich wohl etwas zurück halten." Und tatsächlich bestätigte der PVC der Familie Neumann bei der allmorgendlichen Analyse der Blut-, Urin-, Stuhl- und Kreislaufwerte sowie beim Irisscan für Jan auch an diesem Morgen einen signifikanten Trend in Richtung überhöhter Cholesterinwerte.

Diese Art von Analysegeräten ist seit einigen Jahren bei nahezu allen Haushalten installiert und überwacht dort die wichtigsten Vitalwerte seiner Nutzer. Eine sensible Sensorik - eingebaut in der Toilettenanlage - analysiert täglich Stuhl, Urin und Körpergewicht, während ein Biochip für die nicht-invasive Schnellanalysen von Blutdruck, Puls und Blutwerten sorgt. Im Badezimmerspiegel der Breitners ist zudem eine opto-elektronische Einheit integriert, die - verbunden mit einem Online-Expertensystem - für eine lückenlose und kontinuierliche Irisdiagnostik mit entsprechendem Früherkennungspotential sorgt. Diese medizinischen Haushaltssysteme legen die täglichen Messwerte in einer personenbezogenen Datenbank - der Persönlichen VitalAkte (PVA) - ab, die als Nachfolgesystem der elektronischen Krankenakte bereits 2018 eingeführt wurde. Jeder Anwender kann sich Zuhause auf dem Badezimmerspiegel somit Zeitreihen seiner Vitalfunktionen anzeigen lassen und damit die zeitliche Entwicklung der wichtigsten Vitalwerte nachvollziehen. Zudem wird der aktuelle Gesundheitsstatus mit den wichtigsten Kennwerten auf einem Dashboard, einem sogenannten VitalCockpit, grafisch verdichtet, um schnelle und prägnante Früherkennungs- und Warnsignale zu liefern. Jan konnte deshalb schon seit einigen Tagen sehen, dass sich die Blutfettwerte in Richtung des kritischen Bereiches bewegten und dies, obwohl er durch eine bewusste Ernährung dieser Entwicklung bereits entgegen zu steuern versuchte. Die Cholesterin-Ampel von Jan steht seit Tagen auf "Gelb".

Die Empfehlungen für ein problemadäquates Umsteuern seiner Ernährung holte sich Jan aus einem PVC-integrierten Diagnosesystem, das von Medizinern und Ernährungswissenschaftlern nach dem Wiki-4-Prinzip weltweit mit Befunden versorgt und von Diagnoseexperten gepflegt, aktualisiert und laufend erweitert wird. Nach dem "Wisdom of the Crowd"-Konzept ist damit ein öffentlich zugängliches medizinisches Expertensystem entstanden, ohne dessen Unterstützung heute auch Mediziner keine Diagnosen mehr stellen. Dabei werden die Symptome sich abzeichnender gesundheitlicher Probleme über einen einfachen Frage-Antwort-Zyklus eingegrenzt und über eine ausgeklügelte Fuzzy-Logik (Modellierung von Unsicherheiten und Unschärfen umgangssprachlicher Beschreibungen) wird auf das Krankheitsbild sowie den Ursachenkomplex geschlossen. Im Laienmodus liefert dann eine angebundene Therapiedatenbank entsprechende Empfehlungen zur Selbsthilfe bis hin zur Selbstmedikation. Bei Medikationsempfehlungen sind Arznei­mittel­unverträglichkeiten sowohl patientenseitig als auch in Bezug auf die Kombinierbarkeit von Wirkstoffen bereits abgeklärt. Diese Datenbasis wurde Anfang 2010 aufgesetzt und stellt eine über alle Datenkanäle (mobil und stationär) global verfügbare Informations- und Behandlungsgrundlage dar. Durch jedes weltweit eingepflegte Symptom bzw. Krankheitsbild erfährt das System eine kontinuierliche Erweiterung, die systemimmanent sowie durch die betreuenden Diagnose- und Therapieexperten auf Plausibilität geprüft und anschließend eingepflegt oder verworfen wird. Der Datenbestand umfasst derzeit rund 18 Milliarden Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge mit den entsprechenden Therapieempfehlungen. Auch hier wird Unschärfen, die sich aus der Vielzahl von Einzeldaten ergeben, mit Hilfe von Fuzzy-Algorithmen adäquat begegnet. Bei Bedarf können die Unschärfen aber auch transparent gemacht werden, um sich ggf. neu entwickelnde Krankheitsbilder in der statistischen Masse nicht untergehen zu lassen.

Jans Frau ist über den Befund nicht sonderlich besorgt, weiß sie doch, dass es ihr Ehemann mit seiner körperlichen und geistigen Gesundheit und Fitness immer sehr ernst nimmt und sich entsprechend verhält. Dennoch legt sie ihm eine ärztliche Abklärung der aktuellen Symptomatik nahe. Obwohl schon jenseits der 50, hatte ihr Mann bisher noch keine ernsthaften gesundheitlichen Probleme. Er ernährt sich mediterran, sorgt neben regelmäßigem Jogging nicht zuletzt mit den aus den Wii-Fit-Boards früherer Jahre entwickelten Trainingskonsolen für ausreichend Bewegung und besucht zweimal die Woche ein Fitnesszentrum, in dem er von seinem persönlichen VitalScout betreut wird. VitalScouts sind die erste Anlaufstelle der Menschen für Fragen der Fitness, Ernährung und Gesundheit. Bereits im Vorschulalter und in den Schulen werden somit Eckpfeiler für eine gesunde Lebensweise mit viel Bewegung und ausgewogener Ernährung gesetzt. Diese Bürgerbetreuung hat sich seit ihrer Einrichtung sehr bewährt, konnten doch die vielen Arztbesuche vergangener Jahre in erheblichem Umfang zu Gunsten einer "sprechenden Medizin" mit einer spürbaren Intensivierung der Arzt/Patientengespräche eingedämmt werden. So hat sich die Qualität der ärztlichen Behandlungen deutlich und nachhaltig verbessert.

Nach einer kurzen Verabschiedung von seiner Frau verlässt Jan das Haus. Zuvor hat er sich noch seinen Personal Assistant angelegt.

Schauplatz - Personal Assistant

Ein Personal Assistant (PA) ist eine technische Symbiose aus einem Smartphone (Telefon, Internet, E-Mail, Navigation, Audio, Video, TV, Radio usw.) und einem Personal Vital Assistant. Das kleine, leichte Gerät wird am Handgelenkt getragen, ist sprach- und menügesteuert und verfügt neben Audioausgängen über ein ausziehbares flexibles Display, auf dem alle empfangenen und gespeicherten Informationen visualisiert werden können. Für medizinische Zwecke sind auch in diesem Minimodul nicht-invasiv arbeitende Biochips aktiv, die eine Vielzahl von Vitalfaktoren im Blut (Zucker, Fette, Säure/Base-Milieu usw.), den Blutdruck sowie die Herzfrequenz messen, überwachen und speichern. Zudem werden Umweltdaten wie Temperatur, Luftdruck, Luftqualität usw. erfasst und mit den Vitaldaten abgeglichen.

Selbstverständlich werden auch die mobil erfassten Messdaten in die Persönliche Vitalakte (PVA) eingepflegt. Der Datentransfer zwischen dem Mobilgerät und der PVA wird automatisch eingeleitet, sobald Jan eine IP-Verbindung aufbaut oder seinen PA in die Ladestation des häuslichen VitalCheckers (PVC) steckt. Auf der Grundlage einer stetig wachsenden persönlichen Datenbasis sind adaptive Prognosemodelle in der Lage, gesundheitliche Schieflagen bereits in einem sehr frühen Stadium zu erkennen und Warnungen auszugeben. Damit hat der Bürger ausreichend Vorlaufzeit, um gezielt gegen sich abzeichnende gesundheitliche Probleme vorzugehen. Unterstützt wird er dabei durch individuelle Empfehlungen seines PVC, der den aktuellen Vitalstatus mit einem medizinischen Expertensystem abgleicht.

Der mobile Personal Assistant analysiert seinerseits die erhobenen Daten sowie deren Zusammenwirken und gleicht diese mit den Vitalwerten des Trägers ab. So wird ein kontinuierlicher individueller Soll-Ist-Abgleich der Vitalfunktionen durchgeführt. Zudem werden die jeweiligen Tagesumstände, wie z.B. Stresssituationen und/oder Phasen körperlicher Anstrengung erfasst, um daraus Rückschlüsse auf die Körperreaktionen des Trägers ziehen zu können. Diese Korrelationsfunktion ist vor allem für Menschen hilfreich, die bereits mit gesundheitlichen Problemen zu tun hatten, da sich damit auf deren individuelle Verhaltensweisen präventiv einwirken lässt. An dieses System ist ein Biofeedback­verfahren gekoppelt, das im Bedarfsfall Stress- oder sonstige Belastungssituationen zu bewältigen hilft. Auch Jan hat sich in manch einer schwierigen Situation der Arbeitsüberlastung von dem System Unterstützung geholt und Stresssituationen gezielt abgebaut. Je öfter das System beim Träger zum Einsatz kommt, desto besser sind die Empfehlungen über adaptive Lernmechanismen an die jeweilige Situation angepasst.

Seit dieses Health Monitoring mit Hilfe kräftiger staatlicher Zuschüsse im Rahmen der "Ubiquitous-Computing-Agenda-2015" der Bundesregierung im Jahr 2016 nahezu flächendeckend im Einsatz ist, wird in der Bevölkerung als Folge eines geschärften Gesundheitsbewusstseins - eine deutliche Abnahme der Ãœberfettung registriert. Diese Systeme sind weltweit erfolgreich installiert und zeigen insbesondere in Nordamerika bereits positive Auswirkungen auf das Ernährungsverhalten der gesamten Bevölkerung. McBurger griff diese Technik als erstes Kettenrestaurant bereitwillig auf und bot seinen Kunden bereits sehr früh auf die individuelle PA-Diagnostik abgestimmte Diäten an.

Schauplatz - Vital-Community und Helfernetze

Internet-Portale und Soziale Netzwerke und auf denen sich Bürgerinnen und Bürger zu Fragen der Gesundheit, der Ernährung zu spezifischen Krankheitsbildern oder über Ärzte und medizinische Einrichtungen informieren und austauschen sind seit Jahren eingeführt und rege frequentiert. Die Entwicklungen von innovativen Kommunikations­räumen für Einzelpersonen und Nutzergruppen haben seit den Anfängen von Web 2.0 im Jahr 2005 einen enormen Zulauf und eine flächendeckende Verbreitung erfahren. Heute sind nahezu alle Krankheitsbilder auf entsprechenden Plattformen repräsentiert und bieten Betroffenen und Interessierten im Erfahrungsaustausch tiefe Einblicke und insbesondere Foren an, auf denen sich die Teilnehmer im Chat und über VoIP-Gespräche austauschen können. Jan ist seit einigen Monaten Mitglied einer Online-Community "Darm & More" die weltweit vernetzt ist, aber auch einen regionalen Kontakt zu Mitgliedern in der nächsten Umgebung herstellt. So nimmt Jan auch regelmäßig an Treffen seiner Regionalgruppe teil, die sich in monatlichen Abständen trifft und enge persönliche Kontakte pflegt. Auch sind diese Regionalmitglieder untereinander in Selbsthilfegruppen hochgradig vernetzt, um untereinander bei Bedarf Vor-Ort-Hilfe leisten zu können. Wie gut das funktioniert, konnte Jan bereits erfahren, als er sich vor einigen Jahren aufgrund depressiver Attacken an eine dieser Helfergruppen wandte und dort kompetente Hilfe erfuhr. Mit Hilfe der Informations- und Kommunikationstechnik lassen sich über Audio- und Videokanäle bei Bedarf Verbindungen in Haushalte herstellen, über die insbesondere ältere, hilfsbedürftige und chronisch kranke Menschen Kontakt zu ihren Nachbarn und Freunden sowie zum zuständigen VitalScout aufrecht erhalten. Im Laufe der Jahre hat sich eine Kultur der Selbst- und Nachbar­schaftshilfe etabliert, die in früheren Zeiten undenkbar war und den Betroffenen zu deutlich mehr Lebensqualität verhalf.

Schauplatz - Ärztliches Zentrum

Auf Anraten seines VitalScouts wendet sich Jan an ein sog. Ärztliches Zentrum (ÄZ) zur medizinischen Abklärung seiner Beschwerden. Dr. Mahlbach kennt Jan bereits seit Jahren, hat er ihn doch schon als Jugendlicher aufgrund von Unregelmäßigkeiten der Blutfette in seiner damaligen Arztpraxis behandelt. Und so begrüßt er ihn recht vertraut: "Na Jan, was fehlt uns denn?" "Ja, Herr Mahlbach, die alte Geschichte scheint wieder aufzuköcheln. Meine Cholesterinwerte sind seit Tagen kritisch und ich weiß nicht warum. Meine Ernährung ist ganz okay, denke ich, und ansonsten habe ich mir auch nichts vorzuwerfen. Auch meine täglichen PVC- Befunde sind alle im grünen Bereich".

Auf der informationellen Grundlage seiner VitalAkte entscheidet Dr. Mahlbach ohne weitere Untersuchung bei Jan eine Darm- und Magenspiegelung durchzuführen. Jan ist von dieser Entscheidung nicht sonderlich angetan, kann er sich doch noch sehr gut an eine endoskopisch durchgeführte Gastro- und Koloskopie während seiner Bundeswehrzeit erinnern. Insofern ist er doch sehr überrascht, dass er zunächst in eine Art Duschkabine gebeten wird, in der sein Körper mittels Kernspintomographie in wenigen Sekunden vollständig gescannt wird. Anschließend kommt er mit Hilfe einer 3D-Videobrille in den Genuss, zusammen mit Dr. Mahlbach eine Reise durch seinen eigenen Körper antreten zu dürfen. Der Arzt manövriert sie dabei per Joystick durch Speiseröhre, Magen, Dünn- und Dickdarm und gibt Jan an jeder auffälligen Stelle eine kurze Lageeinschätzung. "Dies war ungeheuer beeindruckend, insbesondere als wir auf meinen Wunsch hin einen Abstecher zum Herzen gemacht haben", erzählt Jan später seiner Frau von der Untersuchung. Als seine Beschwer­den ärztlicherseits abgeklärt sind, übergibt Dr. Mahlbach Jans 3-D-Köpermodell zur automatischen Begutachtung an ein rechnerbasiertes Expertensystem, das einen Routinecheck des Kreislauf-, Knochen- und Organsystems durchführt. Auch dieser Computercheck bleibt ohne Befund, so dass sich Jan schon nach etwa einer Stunde auf den Nachhauseweg machen kann. Mit der Untersuchung hat er einen aktuellen Gesundheitsstatus bekommen, den Dr. Mahlberg bereits in seine Persönliche VitalAkte (PVA) eingepflegt hat. "Auf dieser Basis lässt sich gut weiterarbeiten", denkt er, zumal auf den aktuellen Statusbericht bei Bedarf jederzeit wieder zugegriffen werden kann.

Freie und in Gemeinschaftspraxen bzw. vermehrt in sogenannten Ärztlichen Zentren praktizierende Ärzte sind neben den Bürgern die Hauptprofiteure eines vernetzten und mit qualifizierten Bürgerdaten angereicherten Gesundheitssystems. So kann sich Jan bei jedem Arztbesuch darauf verlassen, dass dem behandelten Arzt via PVA alle seine Vitaldaten zur Verfügung stehen. Mehrfachuntersuchungen und -diagnosen sowie Paralleltherapien gehören seit langem der Vergangenheit an. Auch Komplikationen in Bezug auf Wechselwirkungen verschiedener Medikamente und Therapien sind seit Einführung von Expertensystemen nicht mehr möglich. Bei allen Medikamentenverordnungen kommt es zu einem automatischen Abgleich mit früheren Verordnungen, so dass eventuelle Unverträglichkeiten sofort angezeigt werden. Da der bedarfsorientierte Zugriff auf eine Persönliche VitalAkte nur mit Zustimmung des Betroffenen und in Verbindung mit einem Irisscan möglich ist, haben missbräuchliche Zugriffe auf Bürgerdaten Seltenheitswert. Mit dem "Gesetz zum Schutz der Persönlichen VitalAkte" (GzSdPVA) vom 11.11.2013 hat der Gesetzgeber auch einen wirksamen Schutz. Weder den Vital Kassen noch den Ärzten oder sonstigen Organen des Gesundheitssystems ist es danach erlaubt, ohne schriftliche Einwilligung des Bürgers (per elektronische Signatur) auf seine PVA-Daten zuzugreifen. Die Server und Datenbanksysteme des Gesundheitsministeriums, das alle PVAs der Bundesbürger administriert, sind in einer Hochsicherheitsanlage des ehemaligen Regierungsbunkers im Ahrtal untergebracht und mit ausgefeilten Abwehr- und Verschlüsselungstechniken vor unautorisierten Zugriffen geschützt. Die gesamte Sammlung der Gesundheitsdaten der Bundesbürger ist als Tandemsystem ausgelegt und garantiert eine 24/7- Verfügbarkeit über abgesicherte Netz- und Funkverbindungen. Diese hohe Verfügbarkeit ist insbesondere in Notfällen unverzichtbar, wenn Bürger z.B. bei Unfällen über die eCallFunktion ihres PAs oder Fahrzeugs geortet und in das nächstgelegene VitalZentrum gebracht werden. Bei Eintreffen von Unfallopfern liegen dort bereits alle relevanten VitalDaten vor und stellen damit schnellste Maßnahmen seitens der behandelnden Ärzte sicher, zumal der am Handgelenk des Unfallopfers befindliche PA die aktuellen Vitalfunktionen des Unfallopfers laufend an das VitalZentrum übermittelt.

Auch bei der Verordnung von Arzneimitteln werden die Rezepte direkt in der Persönlichen VitalAkte abgelegt. Der Arzt "unterschreibt" das Rezept mit einer qualifizierten digitalen Signatur und löst damit eine automatische Internetsuche nach dem günstigsten Angebot eines Arzneimittelanbieters aus. Apotheken alten Zuschnitts gibt es nur noch wenige und auch das in 2009 nur zaghaft eingeführte eRezept auf einer "elektronischen Gesundheitskarte" musste einer durchgängigen Digitalisierung vom Rezept bis zur Abrechnung mit den VitalKassen weichen. Bei der Medikamentenbestellung hat der Bürger die Option auf eine individuelle Zusammenstellung der Tages- und Wochenration von Arzneimitteln nach ärztlicher Anordnung in sog. Blisterpackungen. Damit wurden sowohl die Therapietreue gefördert sowie die Hortungs- und Wegwerfmissstände deutlich zurückgeführt. Die Arzneien werden von Kurierdiensten zeitnah direkt zum Bürger gebracht und die Abrechnung erfolgt unmittelbar aus der PVA mit der jeweiligen VitalKasse (=Kostenträger), die auf individuell angepasste Tarife zurückgreifen kann. Ein Rezept- und Verschreibungsmissbrauch, der in 2005 noch auf rund 4 Mrd. Euro geschätzt wurde, ist durch die bedingungslose Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Verschreibungs- und Abrechnungspraxis inklusive der Lieferketten nicht mehr möglich. Selbstständige Robots durchsuchen den Datenbestand der PVAs laufend nach eventuellen Unstimmigkeiten und schlagen in Verdachtsfällen sofort Alarm. Durch diese Verschreibungs- und Abrechnungstransparenz gepaart mit einer verstärkten Vorsorge und Eigenverantwortung der Bürger konnten die Kosten für Arzneimittel in den letzten Jahren in erheblichem Umfang reduziert werden.

Schauplatz - VitalZentrum (VZ)

Im VitalZentrum Mainauen, den Älteren noch bekannt als Krankenhaus rechts des Mains, laufen die Nachbereitungen der Herz-OP von Frank Zetschke auf Hochtouren. Dr. Kehl legt seine 3-D-Brille ab und verlässt den Navigationsstand des OP, an dem er gerade einen Eingriff am Herzen des Patienten per Joystick gesteuert hat. Auch bei diesen Operationen begibt sich der Arzt mit entsprechender Scan- und Videotechnik direkt an den Ort des Geschehens und arbeitet damit quasi innerhalb des Herzens des Patienten. Ermöglicht wird dies durch eine 3-D-Animation des betroffenen Organs, die mittels Holographie räumlich über und um den Arzt herum ausgebreitet wird. Auch der Operateur "Roboter" mit seinem hochpräzisen und schwingungsfreien OP-Arm hat sich auch bei Routineeingriffen längst durchgesetzt. Gesteuert werden diese Automaten über ein virtuelles Skalpell in der Hand des Chirurgen. Die Eingriffe folgen den Vorstellungen einer minimal-invasiven Chirurgie, wobei selbst transkontinentale Tele-Operationen durch Spezialisten zur klinischen Routine geworden sind und geografische Zwänge überwinden helfen. Zum Einsatz kommen bevorzugt Laserskalpelle sowie Nanoroboter, die ohne jegliche Körperöffnung über die Gefäßsysteme geleitet kleinere Eingriffe an Organen direkt vor Ort vornehmen.

"Hallo Jan, schön dass du mich besuchen kommst." Jan und Frank Zetschke kennen sich seit ihrer gemeinsamen Zeit im Fußballverein und so kommt schnell ein vertrautes Gespräch zu Stande. Frank schildert noch sichtlich beeindruckt von seinen Erlebnissen im Operationssaal - die Herz-Operation und seinen gesamten Aufenthalt im VitalZentrum (VZ). Aufgenommen wurde er Montag vor einer Woche, wobei dem VZ mittels Persönlicher VitalAkte alle relevanten Vitaldaten bereits zur Verfügung standen. "Die Ärzte saßen praktisch direkt in meinem Herz und diskutierten dort vor Ort alle möglichen Operationsstrategien. Anschließend wurden die Vorschläge von einem Computer analysiert und bewertet. Und ein Arzt aus den USA machte gar eine Ferndiagnose per Videokonferenz." "Woher willst Du das denn wissen, warst Du denn nicht im Tiefschlaf", fragt Jan etwas misstrauisch. Frank sieht Jan ungläubig an. "Im Tiefschlaf ? In welcher Welt lebst du eigentlich? Natürlich war ich bei meiner Herz-OP mit dabei, quasi als Zuschauer auf der Ehrentribüne".

Das VitalZentrum Mainauen ist auf die Kernprozesse Diagnostik, Operation, Postoperative Phase und Patientenkommunikation spezialisiert; die flankierenden Prozesse wurden schon vor Jahren an private Dienstleister übertragen. So wird das Vitalzentrum quasi als Hotel betrieben, wobei sich der externe Betreiber wiederum auf die Prozesse Unterkunft, Verpflegung und Wellness konzentriert, um Patienten in jeder Phase ihres Aufenthaltes den bestmöglichen Rahmen für eine rasche Genesung zu bieten. Zu den Serviceleistungen gehören darüber hinaus tägliche Videobesuche der Angehörigen und der sehr beliebte Shuttleservice des Zentrums.

Kernprozesse

Konzentration auf Kernprozesse

Die qualitätsgesicherten Kernprozesse von Mainauen sind auf Effizienz getrimmt und zeichnen sich u.a. durch bedingungslose Vereinfachungen und Beschleunigungen der Verwaltungs- und Abrechnungsaktivitäten aus. Vorgänge sind von Überflüssigem entschlackt und der Informationsstrom wird durchgängig auf der digitalen Sprachebene, ohne Medienbrüche und zeitliche Verzögerungen im 24/7-Modus abgewickelt. "Wir arbeiten hier seit Jahren völlig papierlos und auch Bildmaterial von Körper- und Organsichten kommen nicht mehr auf Zelluloid daher", bestätigt Prof. Dr. Zeu, der Prozessverantwortliche für die Diagnostik. Die VitalZentren des Landes konkurrieren untereinander in erster Linie über die Kernprozesse, wobei es Wettbewerbsvorteile zu halten und auszubauen gilt. Im Wettbewerb erreichte Vorteile werden auch breit kommuniziert, so dass die Bürger mit ihren Entscheidungen zu Gunsten gut bewerteter VitalZentren einen Beitrag zur Sicherstellung einer hohen Behandlungsqualität leisten. Dieser auf Wesentliches konzentrierte Wettbewerb tut der Branche ausgesprochen gut und garantiert höchstes Qualitätsniveau.

Darüber hinaus konnte die Anzahl der VitalZentren in den letzten Jahren deutlich reduziert werden, zumal die kurative Behandlungen der meisten Erkrankungen mittels telemedizinischer Verfahren direkt in den Ärztlichen Zentren oder gar Zuhause durchgeführt werden. So konnten auch die Bettenzahlen zurück gefahren werden. Kein VitalZentrum hat mehr als 50 Betten und die durchschnittliche Verweildauer beträgt 2,3 Tage. Starben in deutschen Krankenhäusern im Jahr 2006 noch 17.000 Patienten in Folge von Behandlungsfehlern und Falschmedikation, so kommen solche Fälle durch den Einsatz von Expertensystemen, elektronischer Checklisten, fundierter und aktueller Patientendaten und der weltweiten Vernetzung von medizinischem Sachverstand heute praktisch nicht mehr vor. Auch helfen Gen-Datenbanken den Ärzten, zunehmend mehr Techniken der sanften Erneuerung anstatt der lange Zeit vorherrschen Transplantation von Organen einzusetzen. Abstoßreaktionen treten kaum noch auf. Auch das sog. "Tissue Engineering" einer regenerativen Medizin hilft Organe aus körpereigenen Stammzellen in 3-D-Verfahren mittels Zellstrahldruckern aufzubauen und anschließend zu implantieren.

Schauplatz- Operative Nachsorge

Im Rahmen einer lückenlosen postoperativen Totalüberwachung mittels innovativer Telematik-Technologien - deshalb auch die extrem kurzen Liegezeiten - werden alle medizinisch relevanten Analysedaten sowie Galileo-Ortsdaten der entlassenen Patienten gespeichert. Ein lückenloses Monitoring der Vitaldaten in Verbindung mit Früherkennungssystemen erzeugen bei Bedarf automatische Warnmeldungen (Habachtsignale: grün-gelb-rot). Bei auftretenden Komplikationen und postoperativen Problemen erfolgt die Kontaktaufnahme mit dem Patienten über Audio- und Videotechniken und ggf. eine sofortige ambulante Sofortbetreuung. Eine gegebenenfalls notwendige Lokalisierung mobiler Patienten wird mittels Galileo-Ortung durchgeführt. Diese telemedizinische Bereuung hat sich auch bereits über viele Jahre bei der Hausbetreuung chronisch erkrankter und demenzkranker Menschen sowie der ambulanten Rehabilitation bewährt.

Schauplatz - Finanzierung, Industrie und Gesetzgeber

Die Krankenkassen früherer Jahre wurden zu kleinen, agilen und flexiblen VitalKassen, die - ausschließlich privatwirtschaftlich organisiert - in ebenfalls belebendem Wettbewerb zueinander stehen. Eine Deregulierung der öffentlich-rechtlichen Kassen wurde nach dem Vorbild von Post, Telekom, Bahn und den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten in Angriff genommen und 2016 auf die kassenärztliche Vereinigungen sowie deren Bundesvereinigung ausgeweitet. Die Rechte und Interessen der zugelassenen Ärzte und Psychotherapeuten gegenüber den VitalKassen und der Politik werden heute ausschließlich von den Standesverbänden wahrgenommen. Der Wettbewerb der VitalKassen konzentriert sich vor allem auf Prävention, Service, Beratung und Behandlungsqualität, wobei die Grundlagen­finanzierung der Kassen über Beiträge aller Bürger erfolgt. Die bis Anfang der 20er Jahre im Bundestag kontrovers diskutierte Bürgerversicherung hat so eine späte Bestätigung gefunden, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass die umzulegenden Gesamtkosten für Vitalität und Fitness nur mehr einen Bruchteil früherer Jahre ausmachen. Die Rekordkosten des deutschen Gesundheitswesens in Höhe von rund 180 Milliarden Euro im Jahr 2010 konnten so mehr als halbiert werden. Effizienz, Transparenz und Wettbewerb des Gesundheitssystems und vor allem die Eigenverantwortung, Eigenvorsorge und gesunde Lebensführung mündiger Bürger waren und sind die entscheidenden Stellhebel für den erzielten Erfolg. Das erwünschte Bürgerengagement wird über Boni für Fitnessaktivitäten, Ernährungsworkshops, Vorsorgechecks, usw. gefördert und entsprechend honoriert. Gesundheitliches Fehl- oder Risikoverhalten (Übergewicht, Sucht-, Risikoverhalten, ..) wird in tragbarem Rahmen durch individuelle Beitragsgestaltung berücksichtigt, wobei die PVAs eine transparente und für den Bürger akzeptable Berechnungs­grundlage bilden. Ein aus den PVAs ableitbarer Vitalindex, der den Vitalstatus von Bürgerinnen und Bürgern auf eine Kennzahl verdichtet, berechtigt zur Teilnahme an entsprechenden Anreizprogrammen der Vitalkassen, womit den Bürgern spürbare Nachlässe auf die Kassenbeiträge eingeräumt werden.

Die Unternehmen der Pharmabranche und der Medizintechnik haben sich schnell an die Belange eines modernen Gesundheitssystems angepasst. Forschung und Entwicklung sind auf Prävention und Vorsorge fokussiert, Bio- und Gentechnologie genießen in der Arzneimittelforschung höchste Priorität und individualisierte, maßgeschneiderte DNS-optimierte Arzneien werden von den VitalKassen gefördert. Zur Vorsorge und einer sanften Medizin passen auch die natürlichen Heilkräfte, die eine Renaissance ungeahnten Ausmaßes erlebten. Die Medizintechnik ist zur Vorzeigeindustrie geworden und entwickelt Hard-, Software- und Systemprodukte, die als Exportschlager und Trendsetter in einer globalisierten Welt gelten. Weltweit genießen die deutsche Unternehmen Anerkennung und Respekt für ihre innovative moderne Ausrichtung. Diese Entwicklung erinnert an die Jahre 2005 bis 2010, als die deutsche Industrie - politisch angereizt - mit der Ausbauoffensive Erneuerbare Energien eine weltweite Vorreiterrolle beim Umweltschutz und der Energieeffizienz einnahm.

Hier wollen wir das Jahr 2030 verlassen und uns wieder der Gegenwart zuwenden. Falls sich die eine oder andere Vision auf den ersten Blick "phantastisch" anhören sollte, so ist sie es de facto nicht, denn fast alle angesprochenen Konzepte und Basistechnologien sind heute bereits bekannt und mehr oder weniger weit entwickelt. Woran es heute meist fehlt, sind die Anwendungen und/oder die Pioniere, die es wagen, entschiedene erste Schritte zu gehen.